Aktuelle Situation
Ende November 2024 begann eine militärische Koalition aus verschiedenen Kräften unter Führung der islamistischen Miliz Hayat Tahrir Al-Sham (Komitee für die Befreiung Syriens - HTS) das gesamte syrische Territorium zu erobern, mit Ausnahme des kurdisch regierten Nordostens. Unterstützt wurde sie von säkulareren Truppen und drusischen Milizen, die von Süden aus am 8. Dezember Damaskus einnahmen. Eine wichtige Rolle spielte auch der Aufstand der lokalen Bevölkerungen gegen das Assad-Regime (vgl. Helberg 2025). Das Regime, das hunderttausende Tote und unzählige Gefolterte auf dem Gewissen hat und von Russland und dem Iran unterstützt wurde, fiel am Ende wie ein Kartenhaus in sich zusammen, denn es war korrupt, unbeliebt und wirtschaftlich bankrott.
Die HTS hat sich nach ihrer Gründung 2017 von al-Qaida und dem IS losgesagt und leistete einen maßgeblichen Beitrag zum Kampf gegen die beiden Terrororganisationen. Das Bündnis verschiedener Milizen verfolgt zwar weiterhin grundsätzlich eine salafistische Ideologie, orientiert sich jedoch seit seiner Machtübernahme in der nordwestlichen Provinz Idlib in der Praxis zunehmend an pragmatischen Zielen, wie wirtschaftliche Entwicklung, Pluralismus und „multinationale Einheit“. Auch Proteste der Bevölkerung gegen die Provinzregierung wurden geduldet und hatten mitunter Erfolg, da HTS radikalere Pläne zurücknahm. Dieses Modell versucht nun die neue Führung in Damaskus, von Idlib auf ganz Syrien zu übertragen. Zur Auflösung der Fußnote[1]
Der als Abu Muhammad al-Dschulani bekannt gewordene Führer der HTS, der nun seinen Geburtsnamen Ahmed Al-Scharaa benutzt, vertritt seit der Abkehr von Al-Qaida nach außen einen eher pragmatischen, technokratischen Islam. Ende Januar 2025 ließ er sich von seiner Militärkoalition zum Übergangspräsidenten ernennen. Er versprach, nach einer Phase der Stabilisierung innerhalb von drei Jahren eine neue Verfassung ausarbeiten zu lassen und Wahlen abzuhalten. Auch eine von der Regierung einberufene Nationale Konferenz, die Ende Februar 2025 in Damaskus zusammenkam, sprach sich für Wahlen, Freiheit, territoriale Integrität und für eine Staatsform aus, in der alle ethnischen und religiösen Gruppen Syriens ihren Platz finden sollten. Aus der Konferenz ging auch ein Verfassungskomitee hervor.
Die USA und europäische Staaten entschlossen sich schnell, die neue Übergangsregierung grundsätzlich zu unterstützen. Die EU-Staaten haben Ende Februar eine schrittweise Lockerung von Sanktionen beschlossen. Zur Auflösung der Fußnote[2] Gleichzeitig bleiben Sanktionen der westlichen Staaten ein Hebel, falls Syrien wieder in Gewalt abdriftet oder Frauen-, Menschen- und Minderheitenrechte nicht geachtet und demokratische Beteiligungsrechte nicht garantiert werden. Die Türkei und arabische Staaten unterstützen ebenfalls die neuen Machthaber, allerdings mit jeweils eigenen nationalen Interessen. Sie eint u.a. das Ziel, den Iran aus Syrien zu verdrängen.
Die UN mit ihrem Mediationsauftrag für Syrien sucht nach einer neuen Rolle im Übergangsprozess. Der UN-geführte Genfer Prozess zu Syrien ist Geschichte. Die oppositionelle Syrische Verhandlungskommission (SNC) in Genf, bestehend aus der Nationalen Koalition und weiteren Gruppen, hat im Februar 2025 ihre Auflösung bekanntgegeben. Zuvor hatte sich die von der politischen syrischen Opposition im Exil geschaffene Plattform „Nationale Koalition“ mit Sitz in Istanbul nach einem Treffen mit Al-Scharaa für aufgelöst erklärt.
Ursachen und Hintergründe
Der zentrale Konflikt zwischen dem Assad-Regime und der vielgestaltigen politischen und militärischen Opposition ist innerhalb von nur wenigen Tagen implodiert. Syrien war nach der Eskalation im Nahen Osten zwischen Israel und der Hamas nach dem Massaker der Hamas an Israelis am 7. Oktober 2023 und dem anschließenden Krieg im Gaza-Streifen zum Schauplatz eines um sich greifenden Konflikts geworden. Durch die starke Präsenz des Iran in Syrien geriet das Assad-Regime in zunehmende Bedrängnis. Israel flog regelmäßig Luftangriffe in Syrien gegen iranische und syrische Militärziele. Die zwei direkten militärischen Konfrontationen zwischen Israel und dem Iran im April und Oktober 2024 offenbarten die Schwäche des Teheraner Regimes. Die Ausweitung israelischer Kriegsführung gegen die Hisbollah im Norden führte zur Tötung fast der gesamten Führungsriege der Hisbollah, die in Syrien mit brutalen Mitteln zum Überleben des Assad-Regimes beigetragen hatte.
Durch die militärische Schwächung der Hisbollah und des Iran durch israelische Angriffe entstand eine neue Dynamik, welche die HTS-Miliz in Idlib nutzte, um aus der Enklave Idlib auszubrechen. Dort waren die Frontlinien lange eingefroren. Die Militäroffensive war zunächst zur Abschreckung und Abwehr russischer Luftschläge und Attacken iranischer Milizen gedacht, die seit langem ein Problem für die Menschen im Nordwesten darstellten. Dass die militärische Operation vom 27. November 2024, zu der die Türkei nach einigem Zögern grünes Licht gegeben hatte, schon nach elf Tagen zum Sturz Assads führen würde, hatte niemand vorhergesehen, nicht einmal die beteiligten Milizen selbst.
Der Erfolg der HTS-geführten Allianz war nicht nur das Ergebnis einer klugen Militärstrategie der Vermeidung großer Schlachten und eines schnellen Vormarsches, sondern auch in der Schwäche des korrupten und weithin unbeliebten Assad-Regimes begründet. HTS verstand es, durch geheime Kommunikation und Sicherheitsgarantien sicherzustellen, dass Teile des Assad-Regimes im Falle eines Vormarschs keinen Widerstand leisteten. Auch wurde deutlich, dass große Teile der Bevölkerung keine Loyalität mehr zum Assad-Regime zeigte und die Siege der HTS-Allianz auf den Straßen feierte. Als eine Front nach der anderen zusammenbrach, entschied das durch die Aggression gegen die Ukraine geschwächte Russland, Assad keinen Beistand mehr zu leisten. Der Iran war so schnell nicht in der Lage, Unterstützung zu leisten, und die Regierung des Irak weigerte sich, die Grenzen für unterstützende Milizen zu öffnen (z.B. Adar et al. 2025).
Doch auch nach dem Sieg über das Assad-Regime bleiben die meisten innerstaatlichen Konflikte in Syrien virulent. Zu nennen sind insbesondere (1) die Auseinandersetzungen in und zwischen den verschiedenen Machtgruppen über die Gestaltung des Übergangsprozesses und die politische Ausrichtung des syrischen Staates; (2) die Konflikte um die territoriale und administrative Struktur des neuen Syrien sowie (3) der Kampf um die Verteilung der knappen wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen zwischen verschiedenen politischen, sozialen und ethnisch-religiösen Gruppen und Milieus. Wenn es der Übergangsregierung nicht gelingt, dafür tragfähige Kompromisse auszuhandeln und zielführende politische Strategien zu entwickeln, könnte das Land schnell wieder in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zurückfallen.
An erster Stelle steht die Aufgabe, Recht und Ordnung sowie das Gewaltmonopol des Staates herzustellen. Das Erfolgskonzept der HTS war bislang, keine Rachefeldzüge gegen Assad-treue Militärangehörige, Beamte oder gegen andere Religionsgruppen, insbesondere die Alawiten, zuzulassen, zu der Assad gehört – und wenn sie geschehen, sie zu verfolgen und aufzuarbeiten. Stattdessen setzte Al-Scharaa auf die Vermeidung von Konflikten und die Beibehaltung von staatlichen Institutionen. Es bleibt abzuwarten, ob es den neuen Machthabern in Zukunft gelingt, radikale islamistische Splittergruppen von weiteren Übergriffen und Gewalttaten gegen alawitische und christliche Syrer abzuhalten. Gefahr droht auch von Anhängern und Gruppen des alten Regimes, die – unterstützt und angestachelt vom Iran – versuchen, die Stimmung gegen die neuen Machthaber aufzuheizen und Chaos zu stiften. Zur Auflösung der Fußnote[3]
Von einer lokalen und vielleicht sogar landesweiten Destabilisierung könnten auch radikalere Kräfte innerhalb der HTS und ihrer Bündnispartner profitieren, denen die Politik der Übergangsregierung als zu gemäßigt und zu wenig islamtreu erscheint und die dem Übergangspräsidenten Al-Scharaa einen Kniefall vor dem Westen vorwerfen (vgl. z.B. Bunzel 2025). Diese Kräfte könnten Streitigkeiten innerhalb der Koalition nutzen, um gegen den aktuellen Kurs aufzubegehren und auf die Hinwendung zu einer islamistischen Politik zu drängen. Al-Scharaa hat zunächst versucht, diese Kräfte durch Posten in Militär und Politik zu beschwichtigen und in seine Politik einzubinden.
Eine Destabilisierung droht auch, wenn es nicht gelingt, die kurdischen Kräfte im Nordosten des Landes in die neue syrische Armee und das politische Gefüge des neuen Syriens einzugliedern. Ohne die Einmischung der Türkei und die Angriffe der von ihr unterstützten Syrian National Army (SNA) auf von Kurden kontrollierte Gebiete hätten sich die neue Führung in Damaskus und die kurdische Selbstverwaltung wohl schon geeinigt. Jetzt bleibt abzuwarten, ob nach der Niederlegung der Waffen durch die PKK eine Aussöhnung zwischen den Kurden und der Türkei auch in Syrien gelingt oder die türkische Regierung die militärische Konfrontation in Syrien sucht, was die Stabilität im Land gefährden könnte.
Die Übergangsregierung wird ihre ambitionierte politische Agenda nur bei halbwegs stabilen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen umsetzen können. Syriens Wirtschaft ist zwischen 2011 und 2018 um jährlich 12 Prozent geschrumpft und befindet sich bei nur noch einem Drittel des Vorkriegsniveaus von 2010. Verglichen mit normalen Bedingungen im gleichen Zeitraum hat Syriens Wirtschaft durch Zerstörung und Produktionsausfall laut Angaben der Weltbank ca. 300 Milliarden USD verloren. Zur Auflösung der Fußnote[4] Alleine der Wiederaufbau soll nach Schätzungen 250 Milliarden kosten. Die neue Regierung in Damaskus hat die Schulden des Landes auf 20 bis 23 Milliarden USD geschätzt, und das bei einem Bruttoinlandsprodukt von lediglich 17,5 Milliarden. Zur Auflösung der Fußnote[5] Die Bevölkerung leidet unter einer hohen Inflation und insbesondere unter steigenden Lebensmittelpreisen. Rund 90 % der Syrerinnen und Syrer leben nach UN-Angaben in Armut und 70 % sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Zur Auflösung der Fußnote[6] Angesichts der Rückkehr hunderttausender Flüchtlinge aus den Nachbarländern (Libanon, Jordanien, Türkei) könnte sich die Situation noch weiter zuspitzen. Nach jahrelanger Armut und Ausgrenzung im Exil hoffen sie auf eine spürbare Verbesserung ihrer Lebenssituation. Viele Syrerinnen und Syrer in Europa machen ihre Rückkehr vom Erfolg der friedlichen Transition abhängig.
Eine weitere Gefahr besteht darin, dass externe Mächte in alte Muster zurückfallen und ihre Stellvertreter („proxies“) innerhalb Syriens unterstützen. So stehen die Türkei und Katar auf der einen Seite (pro-HTS und pro-türkischer Milizen SNA) und Saudi-Arabien, die VAE und Jordanien eher auf Seiten der säkulareren Kräfte im Süden des Landes. Al-Scharaa hat bereits mehrfach versichert, dass das syrische Beispiel einer islamistischen Machtübernahme keine Bedrohung für die Golf-Monarchien bedeute und Syrien an guten Beziehungen zu diesen Staaten interessiert sei. Die neue Regierung ist auf die Unterstützung der reichen Golfstaaten angewiesen und auf offene Grenzen mit Jordanien, um den Handel zu fördern. Zur Auflösung der Fußnote[7]